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Infoabend Erziehungsstelle als Beruf: 23.04.2024

HEIDI MÜLLER

„Zu sehen, wie Kinder aufwachsen und unsere Hilfe mit Liebe und Vertrauen erwidern, ist ein großes Geschenk.“

 

1999 las mein Mann in der Zeitung eine Anzeige mit dem Aufruf: „Pädagogisch arbeiten von Zuhause“. Das Ausländerwohnheim, in dem ich als Kinderbetreuerin arbeite, wurde zu dieser Zeit geschlossen. Ich ergriff die Chance und bewarb mich bei proFam. Es klappte: Ich arbeite seit 1999 als Erzieherin bei proFam.

Mein Mann Dieter und ich sind seit 1976 verheiratet. Da unsere Ehe kinderlos blieb, adoptierten wir zwei Mädchen, die mittlerweile erwachsen sind. Die ältere Tochter wohnt mit ihrem Sohn in der direkten Nachbarschaft, die jüngere Tochter lebt mit ihrem Mann in Nordrhein-Westfalen.

Sonnenschein der Familie

Das erste Pflegekind, das zu uns kam, war erst sieben Wochen alt und hieß Stefan. Er war ein kleiner Sonnenschein und bereitete der ganzen Familie viel Freude. Obwohl wir wussten, dass er von seiner Mutter zur Adoption freigegeben werden wird, bauten wir eine sehr intensive Beziehung zu ihm auf. Die Übergabe an seine Adoptiveltern haben wir sehr intensiv vorbereitet. Die Familie war fast eine Woche in Berlin und verbrachte die Zeit gemeinsam mit uns, um Stefan und seinen Alltag kennenzulernen. Wir freundeten uns an und haben bis heute noch einen regen Kontakt und ein tolles Verhältnis zu Stefan und seiner neuen Familie, die im Emsland leben.

Entwicklungsrückstand durch viel Liebe aufgeholt

Seit dem 1. April 2000 wohnt die damals vierjährige Sarah bei uns. Sie machte noch in die Hose und hatte einen erheblichen Entwicklungsrückstand. Durch regelmäßige Therapien und viel Liebe hat sie diesen mittlerweile längst aufgeholt. Heute ist sie altersgerecht entwickelt und eine gute Schülerin. Sie sagt, dass sie später auch einmal Erzieherin werden möchte. Ursprünglich war geplant, dass Sarah nur etwa zwei Jahre bei uns bleibt. Inzwischen lebt sie seit mehr als zehn Jahren bei uns und möchte das auch weiterhin bis zu ihrer Volljährigkeit tun.

Im Moment ist das Zusammenleben mit ihr nicht immer einfach, da sie in der Pubertät ist und diese auch voll auslebt. Trotz einiger Schwierigkeiten können wir aber immer auf Sarah zählen, denn sie ist ein verlässliches und hilfsbereites Mädchen. Das Verhältnis zu ihrer Kindesmutter ist von einem ständigen Auf und Ab geprägt. Zu ihren Geschwistern hat sie ein gutes Verhältnis.

Kein Kontakt zu den Herkunftseltern

Zwei Wochen, nachdem wir damals Stefan zu seinen neuen Eltern gegeben hatten, übernahmen wir im Dezember die zweijährige Julia, die zuvor in einer Kurzzeitpflegestelle untergebracht war. Ihre Mutter war sehr krank und konnte ihrer Tochter keine emotionale Wärme geben. Die Herausforderung bei Julia bestand darin, ihr „normales“ Essen beizubringen. Sie trank nur aus der Flasche, aß nur püriertes Essen und Stulle und kaute sehr schlecht. So begannen wir, zum Frühstück und zum Abendbrot wieder und wieder Grießbrei zu kochen. Sie ist heute noch immer ein sehr zartes Mädchen, das sehr wählerisch beim Essen ist. Die Angewohnheit, Essen in ihrer Wange zu sammeln, hat sie bis heute noch immer nicht abgelegt. Julia hat keinen Kontakt zu ihren Herkunftseltern, jedoch zu ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester, die auch in einer Pflegefamilie lebt. Julia sieht unsere Familie als ihre eigene an und beantragte mit unserer Unterstützung vor Gericht, dass sie unseren Nachnamen annehmen darf.

Tagelange Schreianfälle wegen Entzugerscheinungen

Nach einer Anfrage von proFam im Februar 2007, ob wir zusätzlich noch ein neugeborenes Mädchen für maximal drei Monate bei uns aufnehmen könnten, sagten wir mit Begeisterung zu. Unsere älteste Tochter stellte uns die Babyausstattung ihres Sohnes zur Verfügung. Darauf holten wir Esra aus der Entbindungsstation ab. Wie wir später erfahren haben, litt Esra unter Entzugserscheinungen von Psychopharmaka, was uns dann auch ihre tagelangen Schreianfälle erklärte. Sie beruhigte sich nur, wenn sie bei mir auf dem Bauch lag. Wir mussten mit ihr zweimal die Woche zum orthopädischen Turnen, da sie sehr verkrampft war.

Zwangstrennung als schmerzhafte Erfahrung

Aus Esra ist ein kleines, intelligentes Mädchen geworden und aus den anfänglich geplanten drei Monaten wurden rund zweieinhalb Jahre. Esra wohnt jetzt laut Gerichtsbeschluss bei ihrer Oma. Unserer Meinung nach ist die Entscheidung der Richter falsch – wir können sie nicht nachvollziehen. Leider dürfen wir Esra nur noch selten besuchen. Sie freut sich jedes Mal sehr, wenn sie uns sieht. Für uns ist es gleichzeitig auch eine schmerzhafte Erfahrung, da wir festgestellt haben, dass sich Esra leider nicht altersgemäß weiterentwickelt hat.

Ernährung über die Magensonde

Nach der Erfahrung mit Esra wollten wir eigentlich kein weiteres Kind mehr aufnehmen. Nach etwa einem halben Jahr sagten wir uns aber, dass wir viel Liebe zu geben haben und es ja noch weitere Kinder gibt, die unsere Hilfe benötigen. Darum haben wir den sechs Monate alten Rashid bei uns aufgenommen. Er war ein Frühchen und hatte fast die ganze Zeit nach seiner Geburt nur im Krankenhaus gelegen. Wir mussten ihn über eine Magensonde ernähren, da er bereits mehrmals an der Speiseröhre operiert werden musste. Um zu verhindern, dass er abnimmt, liehen wir uns eine Babywaage aus, um sein Gewicht ständig kontrollieren zu können. Unsere Kinderärztin sagte zu mir, dass ich als Erzieherin eine Riesenverantwortung trage und sie nicht in meiner Haut stecken möchte.

Zu krank, um in Erziehungsstelle leben zu können

Seine Eltern, die insgesamt fünf Kinder haben, waren sehr dankbar dafür, dass Rashid bei uns leben durfte. Bei einem Besuch lobten sie unsere schöne Wohnung, das gemütliche Bettchen und die Wickelkommode und ließen keinen Zweifel daran, dass sie ihren Sohn in guten Händen wissen. Die Eltern arbeiteten mit uns zusammen, das war auch für uns eine schöne, neue Erfahrung. Leider konnten wir Rashid nicht lange betreuen, da er wieder ins Krankenhaus musste und dort festgestellt wurde, dass er zu krank ist, um in einer Erziehungsstelle leben zu können.

Warten auf einen neuenkleinen Mitbewohner

Nun warten wir wieder darauf, ein Kind bei seinen ersten Schritten im Leben unterstützen zu können. Das Babykörbchen ist leer und bereit für einen neuen kleinen Bewohner.

Der Beruf der Erzieherin ist mein Traumberuf. Er hat Vorteile, aber leider auch Nachteile. Zu sehen, wie Kinder aufwachsen und unsere Hilfe mit Liebe und Vertrauen erwidern, ist ein großes Geschenk. Die Kinder aber in eine ungewisse Zukunft zu entlassen, zerreißt mir immer wieder das Herz. Die Frage, einen anderen Beruf zu ergreifen, stellt sich für mich aber nicht. Sarah und Julia zeigen mir jeden Tag aufs Neue, dass sich der Einsatz lohnt. Und dass ich den richtigen Weg eingeschlagen habe, bei dem ich den Kindern nie das Gefühl gebe, nur Arbeit zu sein. Sie sind vollwertige Mitglieder unserer Familie.